Unsere INKLUSIVE Meinung
Eine Kolumne von Frank Schurgast und Julia Maiano
Der Begriff „Handicap“ findet immer häufiger Verwendung als Ersatz für „Behinderung“. Doch ist diese Praxis wirklich angemessen? Die gängige Rechtfertigung für diesen Sprachgebrauch bedarf einer kritischen Betrachtung. In vielen Sprachen sind die Bezeichnungen für Menschen mit Behinderungen negativ konnotiert. So nutzt man in Frankreich „Les Invalides“, was sich vom lateinischen „invalidus“ ableitet und „krank“ oder „schwach“ bedeutet. In Spanien verwendet man den Ausdruck „Las personas con minusvalías“, was „Personen mit Minderwert“ nahelegt. In Deutschland waren Ausdrücke wie „die Behinderten“ oder „Schwerbeschädigte“ verbreitet. Heutzutage wird jedoch zunehmend „Handicap“ genutzt. Dieser Terminus wirkt modern und dynamisch und suggeriert Weltoffenheit. Wichtig ist vor allem, dass er das stigmatisierende Wort „Behinderung“ vermeidet.
Cap in Hand
Die Kritik am Gebrauch des Wortes „gehandicappt“ ist nicht unbegründet, da es fälschlicherweise Assoziationen mit Obdachlosigkeit und Bettelei hervorrufen kann. Diese Verbindung entsteht oft durch den englischen Begriff „Cap in Hand“, der zu Unrecht als etymologische Wurzel von „Handicap“ betrachtet wird. Tatsächlich hat „Cap in Hand“ historisch eine ganz andere Bedeutung. Erstmals 1565 dokumentiert, symbolisierte die Phrase eine respektvolle Geste, etwa das Abnehmen des Hutes als Zeichen der Achtung oder Höflichkeit. Über die Jahre wandelte sich die Bedeutung, und gegen 1887 bezog sich „Cap in Hand“ auf die Bitte um einen Gefallen. Die Implikation des Bettelns, die „Cap in Hand“ heute mit sich bringt, steht in keinem direkten Zusammenhang zum Begriff „Handicap“. Diese Differenzierung ist wesentlich, um Missverständnisse auszuräumen und eine präzise, würdevolle Sprache zu kultivieren, die die Vielfalt menschlicher Erfahrungen würdigt. Bei der Nutzung solcher Termini ist daher besondere Achtsamkeit geboten, um nicht versehentlich diskriminierende Untertöne zu verstärken.
Es begann mit einer Lotterie
Im Jahr 1653 wurde das Hand-in-Cap-Spiel erstmals erwähnt. Es handelt sich um ein Lotteriespiel, das zwei Spieler und einen Schiedsrichter involviert. Die Spieler tauschen Objekte, deren Wert der Schiedsrichter zuvor einschätzt. Der Besitzer des minderwertigeren Gegenstands muss die Wertdifferenz ausgleichen. Zu Beginn jeder Runde legen alle Beteiligten einen festen Betrag als Reuegeld in einen gemeinsamen Topf. Ob ein Tausch stattfindet, entscheidet sich durch ein gleichzeitiges Handzeichen der Spieler in einer Kappe. Eine offene Hand signalisiert Zustimmung, eine geschlossene Ablehnung. Der Name des Spiels leitet sich von dieser Geste ab und wurde später zu Hand i’Cap verkürzt. Stimmen beide Spieler überein, wird der Tausch durchgeführt oder abgelehnt. In jedem Fall erhält der Schiedsrichter das angesammelte Reuegeld. Bei nur einer Zustimmung findet kein Tausch statt, aber der zustimmende Spieler erhält das Reuegeld.
Im Jahr 1754 fand der Begriff ‚Handicap‘ erstmals im Pferderennsport Anwendung. Dieser Terminus beschrieb die Praxis, dem leistungsfähigsten Pferd zusätzliche Gewichte aufzuerlegen. Ziel war es, eine Wettbewerbsgleichheit mit den weniger starken Pferden zu schaffen. Über die Jahre entwickelte sich die Bedeutung des Wortes weiter. Ab 1883 wurde ‚Handicap‘ nicht mehr ausschließlich im sportlichen Bereich verwendet. Es begann, allgemein für Situationen zu stehen, in denen zwei Parteien mit unterschiedlichen Voraussetzungen gleichgestellt werden sollten. Diese Entwicklung spiegelt die soziale Evolution wider, bei der Begriffe aus einem spezifischen Kontext herauswachsen und eine breitere, oft metaphorische Bedeutung erlangen. So hat sich ‚Handicap‘ von einer technischen Regel im Sport zu einem Konzept der Fairness und Gleichheit in verschiedenen Lebensbereichen gewandelt.
Erst die Kinder, dann die Erwachsenen
Der Terminus ‚Handicap‘ wurde erstmals im Jahr 1915 in den Kontext einer Behinderung gestellt. Anfänglich bezog sich die Bezeichnung ‚handicapped‘ ausschließlich auf Kinder mit physischen Beeinträchtigungen. Im Laufe der 1950er Jahre erweiterte sich die Anwendung des Begriffs auf Erwachsene sowie Personen mit Lernbehinderungen. In der heutigen Zeit ist der Ausdruck ‚Handicap‘ fest in der alternativen Terminologie für Behinderungen verankert und findet ebenso regelmäßige Verwendung im Sportsektor. Besonders im Golf ist der Begriff gebräuchlich und definiert die Differenz zwischen den für einen Kurs benötigten Schlägen und der Schlaganzahl, die ein versierter Spieler für dessen Abschluss benötigt. Somit spiegelt das Handicap die Spielfähigkeit und die Qualität eines Golfspielers wider. Ein höheres Handicap indiziert dabei eine geringere Spielstärke.
Auf Wortgeschichten verzichten
Die ursprüngliche Verwendung des Begriffs ‚Handicap‘ im Zusammenhang mit dem Lotteriespiel wirft Fragen auf, insbesondere warum bei kritischen Betrachtungen des Wortes eine scheinbare Assoziation zu Bettlern hergestellt wird. Es wird angenommen, dass diese Assoziation als Argument gegen die Verwendung des Begriffs angeführt wird, da sie für viele Menschen intuitiv nachvollziehbar ist und es ermöglicht, auf eine umfassende Erläuterung der Wortgeschichte zu verzichten. Für Menschen ohne Behinderung ist es bereits eine Herausforderung, sich ein Leben mit einer solchen vorzustellen. Daher scheint es vielen unangemessen, diese ‚armen Menschen‘ zusätzlich mit Bettlern zu vergleichen. Diese Ansicht wird von vielen als plausibel erachtet, und es besteht wenig Interesse an einer Diskussion darüber.
Der Terminus ‚Handicap‘ wird oft als Synonym für ‚Behinderung‘ verwendet, doch diese Verwendung ist irreführend und ungenau. ‚Handicap‘ impliziert eine defizitäre Perspektive, die den Fokus auf die Einschränkungen legt, die eine Person erleben mag. Im Gegensatz dazu umfasst der Begriff ‚Behinderung‘ auch das soziale Modell, welches anerkennt, dass Behinderungen nicht nur intrinsisch sind, sondern auch durch gesellschaftliche Barrieren wie Vorurteile, physische Hindernisse oder mangelnde Zugänglichkeit verstärkt werden können. Der Vergleich, der im Begriff ‚Handicap‘ mitschwingt, lenkt die Aufmerksamkeit auf diejenigen ohne Behinderung und bewertet Menschen mit Behinderung im Licht dessen, was sie angeblich nicht leisten können, was zu einer Vernachlässigung ihrer individuellen Fähigkeiten und Qualitäten führt.
Welcher Mensch mit Behinderungen spricht schon von der Andersfähigkeit?
Obwohl das Wort ‚Behinderung‘ von einigen als beleidigend oder stigmatisierend empfunden werden könnte, hat es sich dennoch als der vorherrschende Begriff etabliert. Manche bevorzugen euphemistische Alternativen wie ‚besondere Bedürfnisse‘ oder ‚andersfähig‘, aber solche Ausdrücke werden selten von Menschen mit Behinderungen selbst verwendet und spiegeln nicht die Realität wider. Die Fähigkeiten und Bedürfnisse von Menschen mit Behinderungen sind nicht außergewöhnlich, sondern ebenso divers wie die von Menschen ohne Behinderungen. Es geht nicht darum, ‚besondere Bedürfnisse‘ zu haben, sondern um das fundamentale Recht, nicht diskriminiert zu werden. Diese Nuancen sind entscheidend für ein tiefgreifendes Verständnis der Thematik und für die Förderung einer inklusiven Gesellschaft, in der alle Menschen gleichberechtigt und ohne Vorurteile behandelt werden.
Auf ein einziges Merkmal reduzierend
Befragt man eine Gruppe von Passanten nach einem passenden Terminus für Menschen mit Behinderungen, so wird man wahrscheinlich eine Vielzahl an Antworten erhalten. Die Ausdrücke „behindert“ und „Behinderung“ haben in der öffentlichen Wahrnehmung an Wertigkeit eingebüßt. Dies liegt unter anderem an der negativen Konnotation, die entsteht, wenn „bist du behindert?!“ als herabsetzende Phrase genutzt wird. Menschen, die selbst von Behinderungen betroffen sind, empfinden dies oft als ungerecht. Sie argumentieren, dass der Begriff „Behinderung“ lediglich ein Attribut unter vielen ist, das eine Person ausmacht. Es ist von großer Bedeutung, dass der Begriff „Mensch“ stets im Vordergrund steht. Dies verhindert die fälschliche Annahme, es handle sich um eine einheitliche Gruppe, obwohl diese tatsächlich sehr heterogen ist.
Die Verwendung von „der/die Behinderte“ kann dazu führen, dass eine Person auf ein einzelnes Merkmal reduziert wird und andere wichtige Aspekte ihrer Persönlichkeit in den Hintergrund treten. Das Wort „Handicap“ lässt den Menschen gänzlich außer Acht und legt den Fokus auf eine angenommene Einschränkung. Die Entscheidung für einen bestimmten Begriff sollte nicht auf politischer Korrektheit basieren, die leider oft als politisches Werkzeug missverstanden wird. Vielmehr geht es um Empathie und einen bewussten Sprachgebrauch. Kommentare wie „das habe ich schon immer so gesagt“ oder „mir gefällt dieser Ausdruck“ sind nicht hilfreich und können als abwertend wahrgenommen werden. Die angemessenen Bezeichnungen sind daher „Menschen mit Behinderung“ oder „behinderte Menschen“. Eine direkte Nachfrage nach der bevorzugten Bezeichnung ist und bleibt eine respektvolle Herangehensweise.