Bremen, 26.08.2024 (fs) – In Reiterfamilien ist es nicht ungewöhnlich, dass der Nachwuchs das Reiten beherrscht, noch bevor die ersten Schritte gemacht werden. Bei Anna-Lena Niehues trifft der Terminus „Reiten“ allerdings nur bedingt zu. Schon früh wurde sie von der Großmutter aufs Pferd gehoben und sicher gehalten. Nach einer schweren Operation im Jahr 2017 fand sich die fast Vierzigjährige vom Reitverein Rüenberg schneller im Sattel wieder als auf eigenen Beinen. Sieben Jahre später steht nun das Paralympics-Debüt bevor – ein unerwarteter, aber willkommener Wendepunkt in der sportlichen Karriere.
„Entweder ganz oder gar nicht“ scheint das Lebensmotto von Anna-Lena Niehues zu sein. „Gar nicht“ kommt für die ambitionierte Para-Dressurreiterin allerdings nicht infrage. Als Pferdewirtschaftsmeisterin bewältigt sie ein umfangreiches Tagesprogramm. Zusammen mit dem Ehepartner wird ein Reiterhof in Gronau geleitet, auf dem Reiterferien und Unterricht angeboten werden. Die Betreuung der einjährigen Tochter, die Ausbildung der Pferde und das Engagement im Leistungssport erfordern ebenfalls viel Zeit und Energie. Hinzu kommt das persönliche Training, das aufgrund der Behinderung notwendig ist. Es herrscht das Bewusstsein, dass das Leben oft unvorhergesehene Wege geht und man daher flexibel bleiben muss.
Weltuntergangsstimmung?
Anna-Lena Niehues ist bekannt für ihre Fähigkeit, Herausforderungen ohne einen sogenannten Plan B zu meistern, stets bereit mit einer Idee, wie es weitergehen kann. „Wenn nicht so, dann anders“, lautet das Motto, das ihre flexible und lösungsorientierte Denkweise widerspiegelt. Berufliche Erfahrungen haben gelehrt, auf Unvorhergesehenes zu reagieren und intuitiv richtige Entscheidungen zu treffen. Diese Kompetenz war von unschätzbarem Wert, als eine Operation nicht wie geplant verlief. Der Tumor, der sich auf Höhe der Halswirbelsäule direkt am Rückenmark befand, wurde operiert, doch es kam zu Komplikationen bei einem Nerv – das genaue Ausmaß der Schädigung bleibt ungewiss.
Die Konsequenzen waren sofort nach dem Aufwachen auf der Intensivstation spürbar, als die Bewegungsfähigkeit der gesamten rechten Körperhälfte eingeschränkt war. Statt in Panik zu verfallen, wurde dieser Zustand als neue Herausforderung angenommen, wobei der Humor nicht verloren ging. Mit einem Scherz gegenüber dem behandelnden Arzt wurde festgestellt, dass nun wohl nur noch Westernreiten in Frage käme – eine Sportart, bei der die Zügel nur mit einer Hand gehalten werden. Trotz der Schwere der Situation gab es keinen Anlass für eine Weltuntergangsstimmung.
Der Fingerzeig nach Paris
Ein Jahr nach ihrer ersten Begegnung mit dem Para Sport fand sie ihren Platz in dieser neuen Welt. Sie hatte gehofft, an ihre früheren sportlichen Erfolge anknüpfen zu können. Doch bald erkannte sie die deutlichen Nachteile, die sie im Vergleich zu anderen Athleten hatte. Diese Einsicht kam aufgrund der Beeinträchtigungen ihres rechten Arms und Beins. Im Jahr 2018 begann sie, sich intensiv mit dem Para Sport zu beschäftigen und herauszufinden, welche Schritte sie unternehmen sollte. Die Klassifizierung als Para-Sportlerin verzögerte sich jedoch bis 2022 aufgrund der globalen Corona-Pandemie. Nach ihrer Klassifizierung stellten sich schnell Erfolge ein. Niehues, die ihren vierzigsten Geburtstag am Tag der Eröffnung der Paralympics feierte, trat bei den deutschen Meisterschaften im Para-Dressurreiten an. Mit ihrer Westfalenstute Quimbaya gewann sie in der Kategorie Grade IV auf Anhieb den Titel.
Ihr Talent und ihre Hingabe wurden mit der Nominierung für die Weltmeisterschaften in Herning, Dänemark, belohnt. Dort erreichte sie beeindruckende Platzierungen: Sie wurde Sechste in der Einzelwertung und Fünfte in der Kür. Nach einer kurzen Babypause im Jahr 2023 startete Niehues ihre persönliche „Road to Paris“. Sie kehrte gestärkt zurück und bildete mit ihrer Stute eine noch engere Einheit. Sie errang zahlreiche Siege und belegte mehrere zweite Plätze. Bei der deutschen Meisterschaft in Balve im Jahr 2024 übertraf sie sich selbst. Sie gewann nicht nur den Titel, sondern erreichte auch eine persönliche Bestleistung. Dies könnte ein Hinweis auf ihren Erfolg in Paris sein.
Die sensible Natur von Quimbaya
Herausragende Leistungen führten zu einem beeindruckenden zweiten Platz in der Kategorie Grade IV der aktuellen Weltrangliste im Para-Dressurreiten. Die Siege über die Weltranglisten-Erste Kate Shoemaker sowie die Paralympics-Siegerin von 2016 und 2021, Sanne Voets, zeugen von einem hohen Leistungsniveau. Noch steht ein Wettkampf mit der Europameisterin Demi Haerkens aus. Die Wettkämpfe in Paris könnten zwischen diesen vier Reiterinnen ein enges und fesselndes Erlebnis werden. Vor den Prüfungen liegt der Fokus auf der Vorbereitung von Quimbaya, was keine Zeit lässt, über die bevorstehenden Aufgaben nachzudenken.
Im Dressurviereck wird die Konzentration vollständig auf die Aufgabe und die Stute gerichtet. Alles andere wird nebensächlich, selbst eine Kulisse von 16.000 Zuschauern. Das Viereck bleibt konstant, und darauf liegt der Fokus. Die sensible Natur von Quimbaya und die Bewertung der gemeinsamen Leistung könnten von unschätzbarem Wert sein und im wahrsten Sinne des Wortes zu Gold führen.
Titelbild: Anna-Lena Niehues / Foto: picture alliance / Team D Paralympics