Bremen, 05.08.2024 (fs) – Visuelle und auditive Beeinträchtigungen sind bei Personen mit komplexen Behinderungen keine Seltenheit, werden jedoch oft nicht wahrgenommen. Dies belegt eine Studie der Universität Hamburg in Kooperation mit der Blindeninstitutsstiftung, der Ludwig-Maximilians-Universität München und der Pädagogischen Hochschule Heidelberg. Untersucht wurden Individuen in bayerischen Wohnheimen für Erwachsene. Die Forschungsergebnisse verdeutlichen zudem Möglichkeiten, die alltägliche Teilhabe dieser Personengruppe zu verbessern.
Im Rahmen des Projekts „Sehen und Hören bei Menschen mit geistiger oder komplexer Behinderung in Bayern“ übernahmen Prof. Dr. Sven Degenhardt und Dr. Marie-Luise Schütt von der Fakultät für Erziehungswissenschaft der Universität Hamburg die Leitung. Dr. Stefanie Holzapfel setzte die Studie maßgeblich um. Ein Team der Ludwig-Maximilians-Universität München beteiligte sich ebenfalls. Im Mittelpunkt standen die Lebensbedingungen in den Wohnheimen. Insgesamt wurden 19 Einrichtungen besucht.
Barrierefreiheit hinsichtlich Seh- und Hörvermögen oft vernachlässigt
Dr. Marie-Luise Schütt, Koordinatorin für barrierefreie Bildungsprozesse am Zentrum für Lehrkräftebildung Hamburg, erläutert, dass Barrierefreiheit hinsichtlich Seh- und Hörvermögen oft vernachlässigt wird. Selten werde auf eine angemessene Beleuchtung sowie Akustik geachtet. Spezielle Barrieren für Seh- und Hörbeeinträchtigte würden kaum gemeinsam betrachtet. Bei den Besuchen fiel auf, dass auditive Beeinträchtigungen häufiger übersehen werden als visuelle. Es besteht ein deutlicher Fortbildungsbedarf für das Personal in diesem Bereich, so Schütt.
Die korrekte Identifikation von Seh- und Hörproblemen bei Bewohnern von Einrichtungen für Menschen mit Behinderungen ist von entscheidender Bedeutung. Sie ermöglicht es, gezielte Maßnahmen zu ergreifen, die die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben verbessern können. Dies wird durch den zweiten Teil einer Studie hervorgehoben. In dieser wurden an der Pädagogischen Hochschule Heidelberg Daten zum Seh- und Hörvermögen von Bewohnern aus 13 unterfränkischen Behinderteneinrichtungen gesammelt. Diese Einrichtungen waren nicht speziell auf Sinnesbehinderungen ausgerichtet.
72 Prozent haben Hörbeeinträchtigungen
Mitarbeiter dieser Einrichtungen lieferten Informationen über das Seh- und Hörverhalten der dort lebenden Personen mit komplexen Beeinträchtigungen. Parallel dazu fand eine Untersuchung im Medizinischen Zentrum für Erwachsene mit komplexer Behinderung (MZEB) statt. Die Ergebnisse waren aufschlussreich. Es stellte sich heraus, dass 88 Prozent der untersuchten Personen Sehbeeinträchtigungen aufwiesen. Bei etwa 40 Prozent dieser Fälle waren die Beeinträchtigungen vor der Untersuchung im MZEB nicht diagnostiziert worden. Zudem hatten 72 Prozent der Personen Hörbeeinträchtigungen. Bei 69 Prozent dieser Gruppe waren die Beeinträchtigungen zuvor unbekannt. Bemerkenswert ist, dass 63 Prozent der untersuchten Personen sowohl Seh- als auch Hörbeeinträchtigungen hatten.
Johannes Spielmann, Vorstand der Blindeninstitutsstiftung, betont die gravierenden Folgen, die es haben kann, wenn die komplexe Behinderung von Menschen, die nur eingeschränkt oder gar nicht sehen und hören können, übersehen wird. Er weist darauf hin, dass dies die Selbstbestimmung im täglichen Leben und die Teilhabe in sämtlichen Lebensbereichen erheblich beeinträchtigt. Spielmann unterstreicht, dass eine zusätzliche Sinnesbehinderung ein völlig anderes, barrierefreies Umfeld sowie spezifische Kenntnisse der unterstützenden Fachkräfte verlangt.
Im Rahmen eines dreijährigen Projekts, das mit Mitteln des Bayerischen Gesundheitsministeriums in Höhe von 420.000 Euro unterstützt wurde, leiteten Forscher aus den Studienergebnissen konkrete Verbesserungsmaßnahmen ab. Diese Maßnahmen wurden in einer Broschüre festgehalten, die nun veröffentlicht ist. Die Publikation bietet Mitarbeitenden praktische Ratschläge für die Gestaltung des Zusammenlebens im Alltag. Die Broschüre mit dem Titel „Sehen und Hören mitdenken“ ist als barrierefreie Ausgabe auf der Webseite der Blindeninstitutsstiftung zum kostenlosen Download verfügbar.