Bremen, 14.09.2024 (fs) – In ihrem Werk „Eugenische Phantasmen: Eine deutsche Geschichte“ legt die US-amerikanische Historikerin Dagmar Herzog eine umfassende Analyse der Eugenik in Deutschland über die letzten anderthalb Jahrhunderte dar. Herzogs Studie, die sich durch ihre Brillanz auszeichnet, beleuchtet die geistigen Strömungen und gesellschaftlichen Entwicklungen, die das eugenische Denken geprägt haben. Sie verfolgt die Spuren des nationalsozialistischen Genozids an Menschen mit Behinderungen und zeichnet dessen historische Linien bis ins 19. Jahrhundert zurück. Dabei zeigt sie auf, wie sich Kontinuitäten bis in die heutige Zeit erstrecken.
Die Lektüre dieses Buches kann streckenweise als fast unerträglich empfunden werden. Dies liegt nicht an der Qualität der Arbeit – vielmehr ist es die Thematik, die den Leser herausfordert. Herzog präsentiert umfangreiches Material, auch in bildlicher Form, und stellt mit dokumentarischer Präzision dar, welches Grauen entstehen kann, wenn Menschen ihre Menschlichkeit abgesprochen wird. Sie zeigt, wie die Ideologie der „Nützlichkeit“ und „Brauchbarkeit“ von Menschen zu einer Dehumanisierung führt, die bis heute nicht vollständig überwunden ist.
Ein besonderes Merkmal von Herzogs Buch ist, dass sie den „Euthanasie“-Genozid nicht als isoliertes Ereignis der Jahre 1939 bis 1945 betrachtet. Stattdessen bettet sie ihn in ein breiteres Spektrum eugenischer Ideen ein, die sowohl vor als auch nach diesem Zeitraum in der Gesellschaft verankert waren. Ihre Analyse bietet somit einen tiefgreifenden Einblick in die geistigen und kulturellen Strömungen, die die eugenische Bewegung in Deutschland beeinflusst haben.
Was war vor dem Massenmord der Nationalsozialisten?
Die Diskriminierung und Marginalisierung von Menschen mit Behinderungen zeigen sich als tief verwurzelt in der kollektiven Psyche der modernen deutschen Gesellschaft. Diese Tendenzen sind nicht ausschließlich ein Relikt der nationalsozialistischen Ideologie. Herzog verfolgt einen bemerkenswerten interdisziplinären Ansatz, um die korrespondierenden Phänomene der „Euthanasie“ und „Eugenik“ zu untersuchen. Sie schöpft aus einem breiten Spektrum an Interpretationen und Theorien aus den Bereichen Philosophie, Soziologie und Psychologie. Ihr Ziel ist es, die Feindseligkeit gegenüber Menschen mit Behinderungen und deren zwanghafte Thematisierung neu zu interpretieren.
Im ersten Kapitel beleuchtet Herzog die Vorgeschichte des nationalsozialistischen Genozids. Sie legt insbesondere die Verflechtung eugenischer und rassistischer Ideologien offen. Der Gedanke der Nützlichkeit des Menschen dominierte die Diskurse des späten 19. Jahrhunderts. Dies führte zu Debatten über die Unterscheidung zwischen „wertvollem“ und „unwertem“ Leben und dem Bestreben, das Letztere zu eliminieren.
Trotz der Tatsache, dass Behinderungen in dieser Epoche häufiger in sozioökonomisch benachteiligten Schichten auftraten und durch Infektionskrankheiten, mangelnde Hygiene und Unterernährung verursacht wurden, lag der Schwerpunkt nicht auf der Verbesserung dieser Umstände. Vielmehr konzentrierten sich Ärzte, Ökonomen und Theologen auf die vermeintliche Bedrohung, die von der biologischen „Minderwertigkeit“ für die Gesellschaft auszugehen schien.
Eine Frage von Rassismus und Antisemitismus
Die Biologisierung, die eine direkte Parallele zu rassistischen und antisemitischen Vorstellungen zieht, sah eine homogene deutsche „Rasse“ durch abweichende oder „minderwertige“ Elemente bedroht. Diese Ideen waren zugleich mit patriarchalischen Moralvorstellungen verknüpft, die Behinderungen als Folge eines zügellosen, außerehelichen Sexualverhaltens von Frauen interpretierten. Einflussreich für den Übergang von rassehygienischen Gedanken zu konkreten Mordfantasien war das 1920 veröffentlichte Werk von Karl Binding und Alfred Hoche, „Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens“. Die darin vertretene Ansicht, dass es aus wirtschaftlichen und emotionalen Gründen geboten sei, sich des „lebensunwerten“ Lebens zu entledigen, fand breite Zustimmung. Die Nationalsozialisten konnten ab 1939 mit der Aktion T4 an diese Stimmung anknüpfen. Dies geschah zeitlich vor der Schoah, deren technische Durchführung – der Massenmord mit Zyklon B – zunächst an Menschen mit Behinderungen erprobt wurde.
Im zweiten Kapitel, das die Zeit des Nationalsozialismus behandelt, konzentriert sich Herzog nicht direkt auf die Täter der Ermordung behinderter Menschen während der Aktion T4 und einer zweiten dezentralen Tötungsphase von 1941 bis 1945. Vielmehr gibt sie den Opfern der „Krankenmorde“ eine Stimme. Sie zitiert beispielsweise die Anklage eines „Euthanasie“-Opfers, das bei seiner Deportation ausrief: „Unser Blut komme über euch!“
Rechtfertigungen
Herzog entlarvt einen hartnäckigen Mythos, der besagt, dass die Kirchen durch Widerstand das Ende der „Euthanasie“ bewirkt hätten. Sie legt dar, dass Theologen tatsächlich die Eugenik rechtfertigten und protestantische Kirchenvertreter sowie karitative Einrichtungen sich an Zwangssterilisationen und Tötungen beteiligten. Im dritten Kapitel wird die Dimension der nationalsozialistischen Gräueltaten und deren Menschenverachtung behandelt. Es konzentriert sich auf die juristische Aufarbeitung, bei der der Frankfurter Generalstaatsanwalt Fritz Bauer eine zentrale Rolle spielte. Seine Versuche, ähnlich den Auschwitz-Prozessen, einen umfassenden Prozess zu den „Krankenmorden“ zu initiieren, scheiterten jedoch.
In den 1960er Jahren stieß Bauers Engagement auf breite Ablehnung in der deutschen Gesellschaft, und seine umfangreiche Anklageschrift geriet in Vergessenheit. Die letzten Kapitel widmen sich der Entwicklung im Umgang mit „behinderten“ Menschen und deren allmählicher Integration in das öffentliche Leben in Westdeutschland und der DDR. Trotz des „Antipostfaschismus“ der 70er und 80er Jahre, der ein neues Menschenbild förderte, wirken die „eugenischen Phantasmen“ bis heute nach.
Und heute?
In ihrem Nachwort findet Herzog einen optimistischen Unterton, der in einigen Aspekten vielleicht zu positiv erscheint. So wird beispielsweise eine beeindruckende Lernkurve seit den 1970er Jahren hervorgehoben, die einen grundlegenden Wandel der Perspektive markiert. Ebenso wird die Beobachtung angeführt, dass Äußerungen, die Menschen mit Behinderungen diskriminieren und von AfD-Führungskräften stammen, auf entschiedenen Widerstand stoßen.
Jedoch zeichnet die Realität ein anderes Bild, wie jüngste rechtsextremistische Übergriffe auf Wohnstätten für Menschen mit Behinderungen, etwa in Mönchengladbach, zeigen. Auch ein medizinisches System, das auf die Erkennung genetischer Besonderheiten und darauf basierende selektive Schwangerschaftsabbrüche ausgerichtet ist, widerspricht dieser optimistischen Sichtweise.
Herzogs Werk bietet jedoch einen wesentlichen Ansatzpunkt für das Umdenken in Bezug auf eugenische Vorstellungen und setzt sich für eine radikale Gleichwertigkeit menschlicher Unterschiede ein. Das Buch macht eindringlich klar, dass enthumanisierende Denkmuster und Ideologien zu tödlichen Konsequenzen führen können. Daher ist es unerlässlich, dass ein Wandel im Handeln mit einem grundlegend anderen Denken beginnt.
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Titelbild: © Suhrkamp