Von Frank Schurgast
Im Zeitraum von 1939 bis 1945 führte das nationalsozialistische Regime einen systematischen Massenmord durch. Dieser richtete sich gegen Menschen mit psychischen Erkrankungen und Behinderungen. Die Opfer wurden herabwürdigend als „lebensunwert“ und „Ballastexistenzen“ bezeichnet. Ihr Leben endete in sechs Vernichtungsanstalten. Dort starben sie durch Gas, Medikamente, Hunger oder andere grausame Methoden. Schätzungen zufolge fielen diesem Verbrechen mindestens 200.000 Menschen zum Opfer. Die exakte Opferzahl bleibt ungewiss.
Das „Euthanasie“-Programm war streng geheim und zentralisiert. Eine kleine Gruppe aus Ärzten, Juristen und Verwaltungsbeamten trug die Verantwortung für Planung und Ausführung. Grundlage für die Tötungsentscheidungen waren Meldebögen. Diese wurden von den Anstalten ausgefüllt und nach Berlin gesendet. Sie enthielten Daten zu Name, Alter, Geschlecht, Diagnose, Erbkrankheit, Dauer des Aufenthalts, Arbeitsfähigkeit und Pflegebedarf. Auf Basis dieser Informationen entschied die Zentrale über Leben und Tod. Sie erteilte Transportbefehle an die Anstalten. Diese mussten die Patienten in die Vernichtungsanstalten überführen.
Die Krankenakten aus dem Zentralarchiv des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) der DDR
Im Schatten des Krieges gingen viele Dokumente verloren oder wurden zerstört. Dies betraf auch die Akten ermordeter Patienten. Ein Bruchteil dieser Akten wurde bislang aufgefunden und analysiert. Im Jahr 1990 gelang ein bedeutender Fund im ehemaligen Zentralarchiv des Ministeriums für Staatssicherheit der DDR. Ungefähr 30.000 Krankenakten von Opfern der ersten Phase der „Euthanasie“-Aktion, bekannt als Aktion T4, aus den Jahren 1940/41 kamen zum Vorschein. Diese Akten sind von unschätzbarem Wert, da sie neben den Meldebögen auch Krankengeschichten, Briefwechsel, Fotografien und Gutachten beinhalten. Sie gewähren Einblicke in das Dasein und die Qualen der Opfer sowie in die Mechanismen ihrer Ermordung.
Die historische Aufarbeitung der NS-„Euthanasie“ hat in den vergangenen Dekaden zahlreiche Facetten dieses Massenverbrechens erhellt. Dazu zählen die Verstrickung der Mediziner, die Beweggründe und Weltanschauungen der Täter, die Reaktionen der Hinterbliebenen und die Nachwirkungen der „Euthanasie“. Dennoch bleiben Fragen offen und Forschungslücken bestehen, insbesondere hinsichtlich der Opfergruppen und der Kriterien ihrer Auswahl. Die Identität der Opfer, ihre Diagnosen, die Dauer ihres Aufenthalts in den Heilanstalten, die Art ihrer Beschreibung und Auswahl sowie die Bedeutung rassenhygienischer und ökonomischer Faktoren für ihre Ermordung bedürfen weiterer Untersuchungen.
Auswertung der Akten
Die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) unterstützt ein wissenschaftliches Vorhaben. Dieses analysiert Krankenakten aus dem Zentralarchiv des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS). Ein Team aus Historikern, Psychologen und Medizinern leitet das Projekt. Sie zielen darauf ab, die Individuen zu ehren, die Opfer der NS-„Euthanasie“ wurden. Ihre Geschichten sollen dokumentiert werden. Eine Stichprobe von 3000 Akten bildet die Grundlage. Diese repräsentieren das gesamte Archivmaterial. Die Aktenanalyse erfolgt standardisiert. Digitalisierung schließt sich an. Forschungsergebnisse werden in einer Datenbank gespeichert. Sie stehen für weitere wissenschaftliche Arbeiten zur Verfügung.
Eine Pilotstudie des Projekts ist bereits abgeschlossen. Sie bietet Einblicke in die Gruppen der Opfer und die Kriterien ihrer Auswahl. Die Studie offenbart, dass viele Opfer lange Zeit (Median: 10 Jahre) in Krankenhäusern lebten. Diagnosen wie Schizophrenie oder geistige Behinderung waren häufig. Ein Drittel der ermordeten Patienten galt als pflegebedürftig und nicht arbeitsfähig. Fast die Hälfte war arbeitsfähig. Die Studie weist darauf hin, dass Entscheidungen zur Tötung oft von lokalen Gegebenheiten beeinflusst wurden. Dazu zählen die Leitung der Anstalten, das Personal und der Mangel an Platz.
Das Projekt trägt wesentlich zur Aufarbeitung einer tragischen Zeit der deutschen Historie bei. Es dient dem Gedenken an die Opfer der NS-„Euthanasie“. Zudem fördert es das Verständnis für psychisch Kranke und Menschen mit Behinderungen in unserer Gesellschaft. Es hilft, Vorurteile und Diskriminierung zu mindern.